von Uli Kusterer

Prolog

Der Chrysosthomusturm. Wäre da nicht die Ruine des romantischen Schlosses, wäre er wohl unbestritten das Wahrzeichen Heidelbergs. Trotz Stahlbeton, Aussenskeletten und Spezialkränen ist dieses uralte gotische Gebäude das höchste bewohnte Bauwerk dieses Planeten. Niemand kennt den Ursprung des Turmes, der Historikern noch immer Rätsel aufgibt. Weder zuvor noch danach wurde in gotischem Stil gebaut, und das für Jahrhunderte. Wer erbaute ihn? Warum fand er weder in Literatur noch Dokumenten Erwähnung? Was war seine Bedeutung? Das Einzige was Geschichtsschreiber bis in die Mitte des 21. Jahrhunderts herausfanden war, dass seit Menschengedenken dieses Gebäude einer einzigen Familie gehörte. Einer Blutlinie, die durch die Jahrhunderte existiert hatte. Der Name, den man heute mit ihr verband, war Weber.

Und wäre der weitläufige Gebäudekomplex westlich des Turmes der Öffentlichkeit zugänglich gewesen, so hätten noch mehr Leute die Gelegenheit gehabt, den letzten bekannten Nachfahren dieser Familie bei der Ausübung einer Tätigkeit zu beobachten, die zu seinem Beruf gehörte. So war dies einer geringen Zahl von Menschen vorbehalten, von denen unser besonderes Augenmerk dem Mann mit den kurzen graubraunen Haaren gilt, der gerade die strengen Kontrollen der Wachleute am Osteingang des Gebäudes passiert hatte, und nun mit der Sicherheit der Gewohnheit auf eine unscheinbare Pressspantüre zutrat, deren unauffäliges Schild den dahinterliegenden Raum hochtrabend als “Evaluation” auswies.

In der “Evaluation” sassen zwei Damen vor einer vollverglasten Wand, die die Sicht auf den Trainingsbereich freigab, der in einer Halle von ungefähr 150m auf 100m Grösse bestand. Eine der beiden wandte ihren Blick kurz von den zahlreichen Monitoren zu ihren Füssen ab, die verschiedene Nahaufnahmen der Vorgänge in der Halle zeigten:

“Guten Morgen, Herr Becker” begrüsste die Rothaarige den Mann, der auf eine Handbewegung hin auf dem dritten Stuhl vor dem Fenster platzgenommen hatte und mit der Hand durch seinen Borstenschnitt fuhr. Er zog eine gut gestopfte Akte aus seiner Mappe hervor, bevor er diese auf dem Boden neben dem Stuhl absetzte.

“Die Beurteilungen.” stellte die Andere - eine reifere Frau mit kurzen, aschblonden Haaren - wortkarg fest.

“Ich habe die zehn besten herausgesucht.” antwortete Becker, möglicherweise etwas genervt. Er blickte hinab auf die Probanden, die dort unten den letzten von zahlreichen Tests bestritten, die Gefechtssimulation.

Die Tests und Übungen, die die Agenten in dieser holographisch simulierten Umgebung zu durchlaufen hatten, waren diesmal besonders hart. Für die meisten Agenten lief es nicht besonders gut, da sie sich in einer sehr ungünstigen Position befanden: Jeder musste gegen zehn Gegner gleichzeitig antreten und dabei unschuldige Passanten schützen. Es war ein ungewöhnliches Szenario, bei dem die Probanden nur eine Chance hatten, wenn sie ihr bestes gaben. Und selbst das war für die meisten von ihnen noch keine Garantie für Erfolg. Es gab allerdings drei Agenten, die seine Aufmerksamkeit erregten: Frank Weber, ein Schweizer, Patricia Wagner, eine Deutsche und Nikolej Charaschow, ein Russe. Diesen dreien schien der Test keine Probleme zu bereiten; Ausweichen, Erfassen und Schiessen gehörten bei ihnen wohl zur zweiten Natur. Sie erfüllten den Grossteil der Aufgaben mit Bravour, während die anderen Fehler um Fehler begingen und ausschieden.

Becker musste nicht in die Akten sehen, um zu wissen, was der Grund für ihr hervorragendes Abschneiden war. Diese drei hatten ihre Ausbildung bei den Besten abgeschlossen: Frank Weber war Mitglied des schweizer Geheimdienstes, und der war bekanntlich der beste in Europa. Sonst hätte der END wohl auch kaum einen Agenten eines nicht-EU-Staates für ihr Programm aufgenommen. Nun, er wurde dem Ruf seiner Ausbilder mehr als gerecht, er schnitt in diesem Test als bester ab. Nikolej Charaschow andererseits hatte am Tovarischtsch-Programm teilgenommen, einem speziellen, extrem harten Trainingsprogramm das eine spezielle russische Kampfsportart beinhaltete, die man höchstens mit asiatischen Disziplinen vergleichen konnte. Und Patricia Wagner war von der Person ausgebildet worden, die das Vorbild jedes Geheimagenten war: Wolfgang-Walther Wilson. Selbst im innersten Zirkel des Bundesnachrichtendienstes gab es niemandem, dem es gelang alle globalen Krisen aufzuzählen, die Wilson verhindert hatte. Und indem er diese junge Frau ausgebildet hatte, hatte er denen, die nah an das Ergebnis herankamen, schon die nächste Denksportaufgabe bereitgelegt.

Endlich war der Test abgeschlossen. Es war der letzte Teil der Auslese für das “Auxiliatores”-Projekt, einer Art internationaler Polizeitruppe, die gegen Verbrecher mit abnormalen Fähigkeiten vorgehen sollte. Als die Hologrammprojektoren abgeschaltet wurden, präsentierte sich den drei Agenten ein überraschendes Bild: Alle anderen waren bereits ausgeschieden. Bevor sie noch Zeit zur Verwunderung hatten, kam ein Knacken aus den Lautsprechern, und Becker verkündete:

“Ich darf ihnen dreien mitteilen, dass nach Auswertung der Berichte ihrer vorangegangenen Tests jeder von Ihnen erfolgreich die Aufnahmetests bestanden hat.” es rumpelte ein wenig, dann meldete sich eine Frauenstimme:

“Auch ich darf Ihnen gratulieren. Sie haben unsere Erwartungen bei weitem übertroffen. Wir hatten kaum mit zwei erfolgreichen Abschlüssen gerechnet! Sie haben Grund zum Feiern!”

Inzwischen war die dritte Dame unten in der Halle angelangt.

“In 4 Stunden - also um 17:00 Uhr - werden sie in Ihren neuen Stützpunkt in Gaiberg gebracht. Ihre Arbeit beginnt natürlich sofort.” auf einen fragenden Blick der anderen fügte sie hinzu:

“Ihre Kollegen mit abnormalen Fähigkeiten werden erst in sechs Monaten eintreffen. Sie müssen erst noch ihr Training abschliessen, da wir weder im END noch in der Armee irgendwelche Leute mit abnormalen Fähigkeiten haben.”

In den nächsten drei Wochen wurden die Agenten mehr als Kollegen, sie wurden Freunde. Beim Gefechtstraining funktionierten sie wie eine Einheit. Jeder wusste genau wo der andere war, ob er gerade Hilfe brauchte oder helfen konnte, jeder konnte sich auf den anderen Verlassen. Das war auch nötig. Denn nun begann es …


Zuerst fluchte der Busfahrer. Fluchende Busfahrer waren nie ein gutes Zeichen. Im Gegenteil, meist waren fluchende Busfahrer der Grund, aus dem Reisen scheiterten, Menschen starben und Leute wochenlang in kleinen Käffern mit Namen wie “Stein am Rhein” festsassen. Wobei letzteres wenigstens noch wegen seines Namens einige Pluspunkte auf der Skala erreichte.

Auch diesmal hatte der Fahrer einen Grund, zu fluchen. Den hatten sie jedesmal, doch was es gewesen war, das den Bus an einem Sonntagnachmittag auf dem Heidelberger Rathausplatz festsitzen liess, daran konnte sich niemand mehr erinnern. Man erinnerte sich daran genausowenig wie an den Grund, aus dem das Schicksal sich entschieden hatte, Heidelberg zu einer der Grossstädte Deutschlands zu machen, in der keine einzige Werkstatt Sonntagnachmittags geöffnet hatte.

Zuviel war schon vergessen worden, und in der Nacht auf Montag gesellte sich noch ein Ereignis dazu, das man nicht hätte vergessen dürfen. Es handelte sich um das Auftauchen eines Mannes, der in einen seltsamen Schutzanzug gehüllt war, und mit Hilfe eines Riemens auf seinem Rücken einen Behälter trug; ein Gerät mit einem Gehäuse aus einem hellen, leichten Metall, zusammengehalten von einfachen Stahlschrauben. Nur das kleine LCD-Display, das die perfekte zylindrische Form durchbrach, liess erahnen, worum es sich handelte.

Der Mann betrat beinahe lautlos den Bus, es war ein Leichtes für ihn, die entsprechenden Knöpfe hinter der Stossstange zu betätigen, die die Türen öffneten, und das Einzige Geräusch war das Zischen der Luft die sich gegen die Kolben stämmte, begleitet durch das Quietschen der Gummiisolierung an der Unterseite der Türen. Er nahm das Gerät von seiner Schulter und drückte es gegen die Lenksäule, woraufhin es wie vorgesehen Wellen zu schlagen begann, als wäre es flüssig und nicht Metall. Die glänzende Oberfläche begann sich zu beruhigen, um dann mit einem dezenten Knacken von einem Moment auf den nächsten wieder zu dem perfekten Zylinder zu erhärten, dessen Form im ‘Gedächtnis’ des Metalls eingebrannt worden war; Es war nun unverrückbar mit dem Fahrzeug verbunden, die Moleküle des Zylinders mit denen des Armaturenbretts genauso wie der Lenksäule und dem Getriebe tief unten verwoben.

Kapitel 1 - Wer anderen eine Grube gräbt…

Sparmassnahmen sind eine wunderbare Sache. Der Grösste Teil der Bundesbürger hatte diesen Satz damals unterschrieben, als es darum gegangen war, über die Zentralisierung der zahlreichen SEKs zu entscheiden. Nun waren es dieselben, die nach dem Ereignis, das nun kommen sollte, am lautesten nach einer Rücknahme dieser Entscheidung schrien. Nun, nachher ist man immer klüger.

Wer hätte denn auch nur ahnen können, dass die Bomben-Spezialisten der Polizei, die am nächsten an Heidelberg stationiert waren, leider gerade mit der Entschärfung eines Blindgängers beschäftigt waren und frühestens in einer Stunde diesen Ort verlassen könnten. Ja wer nur … ?

Also benachrichtigte man zusätzlich das END-Team, das in einem Vorort von Heidelberg seinen Sitz hatte. Diese sprangen in ihre Uniformen und fanden sich am Tatort ein, ihr Werkzeug im Handgepäck. Ihr Vorgesetzter, Wolfgang Walther-Wilson war bereits am Tatort eingetroffen. Und wies sie ein.

Eine vorbeugende Evakuierung war bereits eingeleitet worden, und man hatte grösste Vorsicht walten lassen, als man das Fahrzeug – laut Fahrer mit einem Motorschaden liegengeblieben – einer ersten Untersuchung unterzogen hatte. Das Gerät sass bombenfest, und schien sich bis zu Achse und Getriebe hinab zu erstrecken. Aufgrund der geringen Ausmasse des Platzes war an ein Abschleppen des Fahrzeuges nicht zu denken. Gesetzt den Fall dass die Zeit ausreichte, wäre es wohl möglich den vorderen Teil des Buses abzutrennen, aber bevor dies in Angriff genommen würde, wollte man sich Gewissheit verschaffen.

“Wir wissen nicht, wie stark die Bombe ist, oder was sie auslöst. Seid also vorsichtig.” schloss er seinen Sermon ab.

Die drei traten vor den Bus, Frank untersuchte die Türen mit Sorgfalt, zog dann einen Stichel aus seiner Werkzeugmappe und stach ihn durch die Gummiisolierung zwischen einem Türflügel und der Karosserie. Eine Ölfontäne später hatte sich die Tür geöffnet und liess die drei in das Innere des Fahrzeugs, wo die Bombe einen wahrlich seltsamen Anblick bot. Das grosse, zylindrische Gerät schien als integraler Teil des Armaturenbretts mit dem Fahrzeug verschmolzen zu sein. Um es zu entfernen, hätte man den ganzen Bus in seine Einzelteile zerlegen müssen, was Stunden benötigt hätte.

“Dir ist klar, …” murmelte Niko, “dass wir hiermit die Chance versauen, den faulen Kerl auf dem Bürgermeisterthron loszuwerden.” und dann begann er, die Schrauben an den Seiten der Bombe zu lösen, die er ausführlich betrachtet hatte. Er ging mit äusserster Vorsicht zu Werke, da es bei Bomben mit solch einer starken Ummantelung zwar unüblich war, dass sie Erschütterungssensoren enthielten, man aber nie sicher sein konnte. Seine kantigen Gesichtszüge verdunkelten sich. Er trat zur Seite, um Frank einen Blick auf die Bombe zu gewähren:

“Ich glaube das ist eher was für Dich. Mir summt der Kopf von dem Gewirr da drin.”

Frank, obwohl er der Elektronikspezialist des Teams war, schien ebenso unschlüssig über den Inhalt dieser Bombe. Er kratzte sich am Kopf, ohne dabei die akkurat gescheitelten Haare durcheinanderzubrinngen. Vorsichtig schob er ein paar Drähte zur Seite, hinter denen eine grau-grün glänzende Flüssigkristallanzeige Verborgen war, die 00:05:01 zeigte. Von dieser LCD einmal abgesehen handelte es sich bei den Komponenten der Bombe durchweg um modernste Technik. Zu moderne.

“Beeindruckend.” bemerkte Frank begeistert. “Ich habe noch nie so viele integrierte Schaltkreise und digitale Signalprozessoren in einer einzigen Maschine gesehen, geschweigedenn in einer Bombe.” Er fand zwischen hunderten von Drähten, von denen einige in der Luft endeten, andere miteinander verbunden waren und wieder andere in wirren Schlangenlinien durch das Ganze Gehäuse zu führen schienen, dutzende kolbenförmiger Gläser, die eine violette, sprudelnde Flüssigkeit enthielten, durch die ständig elektrische Spannung floss. Das sah ganz nach einer Art Elektrolyse aus. Die Flüssigkeit schien einer, die die heidelberger Firma Chelecov-Technik herstellte, sehr ähnlich zu sein. Diese Flüssigkeit wurde hauptsächlich bei Sprengungen für Bergwerke und Tunnels benutzt. 30 Sekunden unter Elektrolyse, und eine Reihe komplexer chemischer Reaktionen trennte sie in zwei Gase, die wiederum miteinander reagierten und eine kräftige Explosion verursachen würden. Aber diese Flüssigkeit musste modifiziert worden sein. Nach den Berichten des Busfahrers und der örtlichen Polizei musste diese Elektrolyse schon beinahe 23 Stunden laufen. Als Frank dies den anderen mitteilte, Schien Niko erleichtert:

“Toll, dann müssen wir nur die Verbindung zu den Batterien trennen und wir sind das Dings los.” Unglücklicherweise verzog Frank, der weiter die Bombe analysiert hatte, in diesem Moment das Gesicht: “Da ist noch ein Röhrchen mit einer Chemikalie!” und wies auf ein kleineres Röhrchen mit derselben Flüssigkeit das sich direkt neben einem weiteren Röhrchen mit einer seltsam golden schimmernden Lösung befand. Der Stromkreis der Elektrolyse hielt ein Relais geschlossen. Sobald der Strom ausfiel, würde das Relais öffnen, und einen Stromstoss aus einem Transistor, der in den letzten 23 Stunden sicher schon gut geladen worden war, in das letzte Glas schicken, und dort eine sofortige Explosion hervorrufen. Doch wenn dies geschah, würde die Explosion geringer ausfallen und höchstens das bereits evakuierte Rathaus zerstören. Natürlich war auch dieses letzte Gefäss gegen die anderen gesichert, so dass es Selbstmord gleichkam, es vorher zu entfernen.

Patricia, gerade von ihrer Suche nach weiteren unliebsamen Überraschungen zurückgekehrt, trat zu den beiden. Zwei Rücken versperrten Ihr die Sicht auf die Anzeige, als das Gerät auf einmal zu piepsen begann.

“Gottfried Stutz!” fluchte Frank.

“Wir müssen verdammt schnell machen!” empfahl Niko.

00:01:28 zählte das Display herunter.

“Sag ihnen, sie sollen alle Polizisten an das andere Ende des Rathausplatzes schaffen. Ich komme in zwei Minuten nach.”

“Tun wir!” bestätigte Niko, und Patricia und er stürzten aus dem Bus und eilten auf WWW zu:

“Wir müssen die Bombe jetzt zur Explosion bringen, bevor sie ihre volle Kraft hat. Alles muss vom Platz, da er und das Rathaus im Explosionsradius liegen. Frank denkt, –” sie brach ab und sah zu Niko, der einen Feldstecher ergriffen hatte und wütend murmelnd den Bus betrachtete:

“Was tut Frank da? Bitte sag’ dass er nicht – !” Er liess den Feldstecher fallen und rannte auf den Bus zu. Nun wurde auch Pat klar, was da vor sich ging:

“Dieser Idiot!” sie rannte hinter Niko her. Auf halbem Weg zum Bus, höchstens noch 10 meter entfernt, sahen sie wie Frank mit einer ruckartigen Handbewegung den Draht zu Hauptkammer der Bombe durchschnitt. Mit einem lauten Knall wurde Niko von den Füssen gefegt und hoch in die Luft geschleudert. Panisch begann er, mit den Händen zu wedeln, um so möglicherweise wieder auf den Boden zu gelangen, doch er konnte dem Aufwärtsdruck der Explosion nicht entkommen. In letzter Sekunde ergriff er eine Strassenlaterne, an der er vorbeigeschleudert wurde und klammerte sich fest. Tausende Metallfragmente aller Größen schossen auf ihn zu, doch er spürte ihren Aufprall nicht. Die Bustür wurde ihm entgegenkatapultiert, von den Druckwellen ausgebeult wie das Segel einer kleinen Yacht, und neben dem durchdringenden Gedanken des Festhaltens fand er im letzten Moment noch Platz für “Ausweichen”. Die Tür verfehlte sein Bein um kaum zwei Zentimeter, und als er so nach hinten sah, erblickte er Patricia wie ein Banner an einer Laterne etwas weiter hinter ihm flattern.

In einer Sekunde war er noch von donnerndem Sturm umgeben, im nächsten fand er sich in absoluter Stille auf den zerstreuten Überresten des Kopfsteinpflasters wieder. Es war so still, dass Niko schon glaubte, er wäre taub, bis er das kratzende Geräusch seines Atems bemerkte. Als träte er durch eine Nebelfront nahm die verschwommene Umwelt langsam wieder Form um ihn an. Es war vorbei. Er versuchte, sich zu bewegen. Linker Daumen … ja. Linker Zeigefinger … Bewegung. Linker Mittelfinger … OK. Linker Ringfinger … schmerzt etwas, vermutlich verstaucht. Rechter … “Autsch!” Das tat weh. Nikolej hob langsam seinen Kopf und betrachtete seine Hände. Die Linke schien normal, abgesehen davon, dass der Ringfinger auf die Größe des Daumens angeschwollen war. Aber die Knochen der Rechten – Er verlor das Bewusstsein.

Patricia erhob sich umständlich auf ihre zitternden Beine. Alles drehte sich um sie, sie war noch immer desorientiert. Ihr ganzer Körper schmerzte, als wäre sie von einem Lastwagen überrollt worden. Durch ihren Kopf schwammen hunderte wirrer Gedankenfragmente, sinnloses belangloses Zeug. In einer möglichst geraden Linie versuchte sie sich dem Bus zu nähern, bis ihr Blick auf etwas am Boden fiel … “Frank!”

Kaum drei Meter vor ihr lag sein matter Körper, vermutlich hatte ihn die Wucht der Explosion so weit getragen. Voll Aufregung stürzte sie auf ihn zu. Er schien als würde er schlafen, wären da nicht seltsame Haarrisse die seine Haut durchzogen. Beinahe ängstlich sah sie ihn von oben bis unten an. Da war noch etwas nicht in Ordnung. In einer Reflexbewegung hielt sie ihre Hand über seinen Mund. Sie spürte keinen Atem.

Kapitel 2 - Konstante Veränderung

Nikolej spielte mit einem Bleistift, was gar nicht so einfach war, wenn man nur die linke Hand zur Verfügung hatte. “Diese blöden Doktoren müssen gebrochene Arme auch immer so einpacken, dass jede Bewegung unmöglich ist!” Wo er herkam hatte sich in dieser Hinsicht in den letzten fünfzig Jahren nichts geändert; ein Verband war das höchste, was man dort bekam. Wer schleifte schon schweren Gips über den Permafrost, wenn man ihn nur alle Jubeljahre einmal brauchte? Fasziniert betrachtete er das weisse Zeug. Seltsam.

Genauso seltsam wie Frank auf diesem Tisch. Stundenlang hatte Dr. L’Kelom jetzt schon damit verbracht, an Frank herumzuschneiden, zu verbinden und zu flicken. Und jedesmal wenn es schien, dass sie fertig wären, fanden sie eine weitere Fraktur. Doch es war ein Wunder. Die Wucht der Explosion hatte ihn grösstenteils verfehlt. Das Rathaus war von der Explosion mit einem Ruck niedergerissen worden, der Bus war pulverisiert worden, nur eine Staubfläche zeugte noch davon, dass er dagewesen war. Im Verhältnis dazu hatte die Bombe Frank kaum gekratzt. Dennoch hatte er keine intakte Rippe mehr, auch die Knochen seines Beins waren mehrfach gebrochen, ganz abgesehen von einer leichten Schädelfraktur, und dutzenden von tiefen Schnittwunden durch Holz- und Glassplitter, die wie Geschosse durch die Luft geschossen waren. Trotzdem, im Gegensatz zu dem Streifenwagen, den ein Rad des Busses wortwörtlich halbiert hatte, ging es Frank blendend. Eigentlich müsste er tot sein. Aber vielleicht war er das auch schon.

Auch Patricia konnte es nicht fassen. Unbeweglich stand sie nur da und sah den Ärzten zu. Sie war nicht ansprechbar, und nur die hektischen Bewegungen ihrer Augen verrieten, dass in ihr noch Leben war. Und, dass sie die erste war, die den Chefarzt bemerkte, als er aus dem OP trat.

“Wie–” Der Doktor unterbrach Patricia mit einer harten Handbewegung. So war es jedesmal gewesen, wenn er in den letzten Stunden den Raum verlassen hatte. Man sah ihm die Erschöpfung an, seine dunkle Haut glänzte von Schweiss wie der Toronto-See bei Sonnenuntergang. Nur, dass letzterer weder so viel Wasser enthielt, noch schwarzes Haar darauf war. “Soweit ich das als Chirurg sagen kann, ist er durch das Dickste jetzt durch.” Patricias Gesicht gewann etwas Farbe zurück “Aber ich kann nichts Endgültiges sagen, bevor der Genetikspezialist ihn untersucht hat.”

“Genetikspezialist?” fragte Nikolej nach, seine harte Stimme von Überraschung getränkt, “Was hat das mit Franks Verletzungen zu tun?”

Die braunen Augen des Doktors wanderten von Pat’s Gesicht zu Nikos, und das ein paarmal bevor er sich dazu durchrang es ihnen zu sagen:

“Unseren vorläufigen Untersuchungen zufolge haben die Gase die während der Explosion freigesetzt wurden in seinem Körper etwas verändert. So wie es aussieht, bis auf Zellebene; streng genommen wissen wir nicht einmal ob er noch ein Mensch–” er brach den Satz ab und blickte einen Moment voll Unbehagen um sich: “Nein, ich darf jetzt nicht spekulieren. Am besten sprechen sie mit unserer Psychologin oder unserem Seelsorger, die bekommen immer die neuesten Informationen und können sie ihnen auch besser vermitteln. Ich bin zu ausgelaugt um noch zu irgendwas zu gebrauchen zu sein. Ich wünsche Ihnen viel Glück.” Mit diesen Worten schlurfte Dr. L’Kelom den Gang hinunter.

“Vielen Dank, Doktor … !” rief Niko ihm noch nach, doch er hörte es nicht mehr. Der beste Chirurg der zur Zeit in Heidelberg zu finden war, von jeher ein kräftiger junger Mann ging fort mit Schritten als wäre er in den letzten sechs Stunden sechzig Jahre gealtert.

Niko wandte sich um. Pat stand nicht mehr am Fenster zum OP. Wo war sie? Dann sah er die Couch gegenüber des Fensters. Dort weinte Patricia.


Inzwischen lief ein Mann in Strahlenschutzkleidung in einem verlassenen Lagerhaus in der Weststadt Heidelbergs auf und ab. Er nahm seinen Helm ab und fuhr mit seiner Hand durch seine kurzen Haare. Bis jetzt war alles nach Plan verlaufen. Nun ja, zumindest sofern es den Ausweichplan betraf. Natürlich wäre es besser gewesen wenn die Bombe die Altstadt zerstört hätte, doch zumindest hatte er jetzt ein paar Versuchskaninchen an denen er die Wirkung des Gases beobachten konnte. Und falls sie nicht so wurden wie er sie wollte – oder falls sie so wurden wie er wollte – würde er sie vernichten, und damit der ganzen Welt beweisen, dass er immer noch mächtiger war. Dass er sie alle vernichten konnte, wenn er nur wollte. Doch eins nach dem anderen. Erst mussten sie ihren Zweck erfüllen.


Dr. John Loup-Smith stürmte die Flure des Heidelberger Stadtkrankenhauses entlang. Seine Krawatte stand auf fünf vor elf, und er hatte noch immer nicht bemerkt, dass er ein altes Metallrohr anstatt seines Spazierstocks mitgenommen hatte. Sein alter Freund und Universitätskollege Dr. Alkuin “Nhoj” L’Kelom hatte ihn wegen eines Falles angerufen, bei dem es sich nicht nur um einen Notfall handelte, sondern der auch ein wissenschaftliches Novum war. Möglicherweise würde er endlich einen dieser Übermenschen, wie die mutierten Menschen mit abnormalen Kräften in der Presse genannt wurden, sehen.

Tschernobyl war nur der Anfang gewesen. Nur verschwindend wenige der mutierten Überlebenden waren noch in der Lage gewesen Kinder zu bekommen. Noch weniger hatten es gewagt. Von den Kindern war wiederum ein Grossteil schon bald nach der Geburt gestorben. Doch selbst bei den Übrigen hatten nur eine Handvoll erfolgreiche Mutationen stattgefunden. Erst seit den unglücklichen Vorfällen auf Rügen, der Insel die ein gigantisches Genforschungszentrum gewesen war, tauchten mehr und mehr vollständig gesunde Menschen mit seltsamen Fähigkeiten überall auf der Welt auf. Es gab Wissenschaftler, die unglaubliche Summen dafür zahlten, solch einen Menschen untersuchen zu können. John gehörte nicht zu denen, doch auch er musste seine Nervosität unterdrücken um nicht wie ein aufgeregtes Kind am Weihnachtsabend in den Raum zu stürmen, in den man den Mann gebracht hatte:

“Unglaublich, dass er solch eine Explosion überlebt hat.” Er nahm seine Instrumente aus seiner Aktentasche und hielt sie an verschiedenen Stellen über Franks Körper, bewegte sie auf und ab, nach links und rechts. Er vollführte diesen Tanz erneut. “Unmöglich.” murmelte er. “Die komplette DNA bis auf molekulare Ebene hinab ist total verändert.” Er nahm mit geübten Händen eine Blutprobe und führte einige Tests mit einem kleinen Gerät durch, das er aus seiner Mappe holte. Er nahm eine weitere Probe. Immer noch nur unsinnige Anzeigen. Er kontrollierte die Geräte, tauschte Filter aus, prüfte die Batterien. Er führte die ganze Prozedur ein weiteres mal durch.

WWW betrat den Raum. John bemerkte ihn nicht. Er konnte nur wie gebannt die seltsamen Ergebnisse überprüfen: Seine T-Zellen arbeiteten auf Hochtouren daran, altes Gewebe zu beseitigen, seine Augen hatten keine Iris, keine Pupille, nicht einmal die kleinste Öffnung. “Mit solchen Augen kann er doch gar nichts sehen. Blind wie eine Fleder–” Er brach ab. “Elektromagnetische Wellen?”

“Heisst das, dass er blind ist?” erkundigte sich WWW.

“Hmmm ?” Loup-Smith fuhr überrascht herum.

“Mein Name ist Wolfgang Walther-Wilson, Dr. Loup. Ich bin sein Vorgesetzter.” entgegnete Wilson.

“Oh, ja… ich erinnere mich.” murmelte Loup und wandte sich wieder seinen Maschinen zu, “man hatte mir gesagt, dass sie vielleicht …” seine Worte verschwanden einen Moment im Nirgendwo als er konzentriert einen Teststreifen mit einem Tropfen Blut beträufelte. “Nun, um präzise zu sein…” er tupfte mit einem Wattestäbchen ein paar Hautschuppen von Franks Schulter und beförderte sie in eine Petrischale “… nicht im üblichen Sinn blind…” Er kramte in einer Schublade nach einem Blutdruckmessgerät und wickelte das Luftkissen um Franks Arm “… seine Augen nehmen kein sichtbares Licht mehr auf …” gebannt lauschte er in das Stethoskop als der Zeiger des Gerätes langsam wieder in die Ruhestellung zurückkehrte. “… sie emittieren eine andere Art von wellen …” Er zog seine Uhr heraus und nahm Franks Puls. Wilson räusperte sich.

“Und?”

“… äh was? Ach, ja… äh. Nun, er hat allerdings Rezeptoren für diese Art von Licht.” Loup notierte schnell die Werte auf einem Notizblock in eine Liste dutzender genau gleich aussehender Zahlen die genausowenig angeschrieben waren bevor er fortfuhr:

“Er wird wohl keine Farben mehr sehen, aber er braucht auch kein Licht mehr, um zu sehen. Seine Augen senden das ‘Licht’ aus, es wird reflektiert, und die Stärke des zurückgeworfenen Lichts wird ihm ziemlich genau Auskunft über Entfernung und Oberflächenstruktur geben. Wie Radar, wenn ich so eine ungenaue Approximation involvieren darf…” Er ging über die Zahlen auf seinem Block und begann herumzurätseln, was wohl welcher Wert war, machte einige unleserliche Kringel zwischen die Zahlen zur Erklärung, strich einige wieder durch und fuhr dann fort:

“Abgesehen davon scheint seine Haut stärker geworden zu sein. Ich denke, deshalb hatten die Ärzte auch solche Probleme mit den Nadeln und Skalpellen, einige male sollen die ja ohne eine Kratzer zu verursachen abgebrochen sein. Ich glaube, gegen Ende mussten sie mit Titannägeln arbeiten, wenn ich mich recht entsinne. Ab zwanzig Meter wird er wohl so schnell keine kugelsichere Weste mehr brauchen …” grinste Loup. Wilson wusste diesen Humor nicht zu schätzen. In diesem Moment ächzte Frank.

“Herr Wilson? Ich denke, sie sollten ihm das beibringen, während ich seine Freunde hole–” murmelte Loup und verliess fluchtartig den Raum.   Kapitel 3 - Wer Wind sät … —————————-

Als Frank eine Woche später aus dem Krankenhaus entlassen wurde, rief der Mann im Strahlenschutzanzug nach seinem Gehilfen. Er hatte gerade eine geringe Dosis einer golden schimmernden Flüssigkeit in ein kleines Reagenzglas gefüllt:

“Incorruptus! Verdammt, wo steckst Du!” Ein dünner Mann trat hinter einer gewaltigen Maschine hervor. Er trug einen seltsamen Anzug auf dessen Brust stilisierte Flammen gezeichnet waren, des weiteren eine Maske, die sein ganzes Gesicht verdeckte, nur für seine Augen befanden sich dort Aussparungen aus milchig-weissem Material. Er trug eine weisse Atemschutzmaske, die seinen Mund und seine Nase bedeckte.

“Da bist du ja! Kannst du nicht antworten?!” Der Mann gab keinen Laut von sich. “Ich sehe, du hast Deinen Sinn für Humor immer noch nicht wiedergefunden. Nun komm, mein stummer Gefährte. Dein Mangel an Stimmbändern und Humor verhindert leider, dass du mein Nachfolger wirst, aber du kannst mir dennoch sehr nützlich sein. Ist die Bombe für die grosse Vorführung heute nacht bereit? Die ‘Berlin II’ wartet nicht ewig so geduldig.” Der Gehilfe neigte seinen Kopf.

“Gut. Nun, ich muss meine Position als Geheimagent wieder einnehmen. Heute abend um elf Uhr bist du am vereinbarten Treffpunkt.” Incorruptus neigte seinen Kopf ein weiteres mal. “Grossartig. Nun sei ein braver Junge und leg den Virus Intelligentiarum in den Safe zurück.” Er gab das grössere der zwei Behältnisse mit goldener Lösung seinem Gehilfen und wandte sich ohne ein weiteres Wort um und verliess das Lagerhaus.


Das Schicksal hatte es die letzten Tage gut mit den drei Agenten gemeint. Nach eingehenderen Untersuchungen hatte Dr. Loup festgestellt, dass es allen dreien den Umständen entsprechend gut ging. Allerdings hatte er auch ein paar kleinere Mutationen bei Niko und Pat festgestellt, was bei beiden leichtes Unbehagen hervorgerufen hatte. Diese schienen jedoch keine so fundamentalen Veränderungen wie bei Frank hervorgerufen zu haben. Genauer gesagt hatte er keine aus diesen Veränderungen resultierenden Nebenwirkungen feststellen können. Es handele sich um harmlose zusätzliche Gen-Sequenzen die keine weitere Wirkung hätten. Er hatte Niko noch etwas gegen seine zittrigen Hände gegeben, und Pat ein paar Übungen empfohlen die ihr helfen sollten, gegen ihre Konzentrationsprobleme anzukommen, und mit ihnen regelmässige Termine vereinbart, um sicherzugehen dass alles in Ordnung war.

Sie waren gerade zum Hauptquartier zurückgekehrt, als der Alarm losging. Niko musste Frank die Meldung vorlesen:

“Angriff auf die Berlin II - Eine Person - zwei Soldaten mit blossen Händen getötet - Vermutlich Verbindung zu Anschlag auf das Rathaus” Als Patricia und Frank dies hörten, waren alle Mahnungen des Arztes, erst noch eine Weile kürzer zu treten, vergessen. Sie eilten hinter Niko in richtung Garage. Als sie in den Flur traten, begrüsste sie ein lautes Donnern und Staub, als wäre eine Mauer eingestürzt. Tatsächlich war dem auch so. Brandgeruch und eine Note von Ozon lagen in der Luft. Sie sahen Nikolej vor einem Loch in der wand stehen. Verdutzt starrte er seine geballte Faust an, als wäre sie eine sprechende Zwiebel.

“Der Flur macht doch so’n nutzlosen Schlenker … und ich hab meine Faust gehoben und gedacht: am liebsten würd ich diese Wand einfach einhauen um ne Abkürzung zum Parkdeck zu haben…” Er blickte kopfschüttelnd durch das Loch in Richtung des Vans: “Da kam plötzlich dieser schwarze Blitz aus meiner Hand und haut die Wand ein.”

Einen Moment wusste niemand, was er sagen sollte, dann meinte Frank:

“Darum können wir uns wirklich später kümmern. Wir haben erst noch etwas zu tun!” Pat und Niko blickten Frank an, der durch das Loch stieg, zögerten einen Moment und folgten ihm dann.


Der Mann im Strahlenschutzanzug schritt ungeduldig über das Deck der Berlin II. Es hatte für ihn kein Problemn dargestellt, die um die fünfzig Soldaten die das bestbewaffnete Schiff Deutschlands bewacht hatten zu überwältigen. Aber sein Helfer, Incorruptus, fehlte. Er sollte doch bei dem was nun kam helfen. Der Mann öffnete den Leichensack, den er mit sich trug. WWW lag darin. Sein Gesicht war gezeichnet und verzerrt von einem Virus der Schritt für Schritt und Zelle für Zelle die Teile seiner DNS ersetzte, die noch darauf schliessen liessen, dass dies einmal der Top-Agent Wolfgang Walther-Wilson gewesen war. Er war nicht bei Bewusstsein.

“Nun, Herr Wilson, da sehen sie wohin es sie bringt, sich auf jemand anderen als sich selbst zu verlassen. Ich verliess mich auf Incorruptus um mir zu helfen wenn Ihre Agentenfreunde eintreffen, und wo ist er? Wahrscheinlich spielt er wieder mit seinen Elektrogeräten. Und sie haben sich auf ihre ‘Auxiliatores’, diese albernen Geheimagenten verlassen, damit die sie retten. Und wo sind die?”

“Genau hinter dir, Mörder!” durschnitt Franks Stimme die Luft. “Dürfen wir uns vorstellen? Wir sind die Auxiliatores, die spezielle Eingreiftruppe wenn es um kriminelle ‘Übermenschen’ geht.”

“Ich weiss, wer Ihr seid, Kinder. Aber wo sind meine Manieren!” grinste der Mann “Ich bin der Eversor. Ich habe Euch geschaffen! Ich habe Euch durch mein Gas zu etwas gemacht, was mehr als nur ein Mensch ist!” Seine durch einen Synthesizer fast bis zur unverständlichkeit verzerrte Stimme schien sich mehrmals zu überschlagen.

“Kinder? Ich bin nicht das ‘Kind’ eines Verrückten!” Niko ballte seine Faust, die Muskeln seines Gesichts waren sichtlich angespannt. Er war kurz davor sich auf den Eversor zu stürzen und auf ihn einzuschlagen bis sein Helm einbrach. Doch der Eversor trat einfach nur zur Seite. Einen Schritt. Und Gab damit den Blick auf eine weitere dieser Zylinderförmigen Bomben frei, die mit dem Boden des Decks verschmolzen war. Das Display zeigte drei Minuten.

“So undankbar! Ich habe Euch zu Überlebenden gemacht, zur perfekten Lebensform. Einem neuen Zweig der Evolution! Eine ganz neue Spe–”

Nikos Kopf glühte vor Zorn. Seine linke Faust traf auf seine Handfläche, und er drückte die Hände gegeneinander, schwarze Blitze spielten zwischen seinen Fingern, verbrannte Luft rieselte als Asche auf den Boden. Auf einmal schienen die Blitze seine Hand wie eine Kugel zu umkreisen, und dann brach ein breiter schwarzer Strahl aus der Vorderseite der Kugel aus, die Luft flimmerte vor Hitze und von einem gewaltigen schwarzen Blitz getroffen schleuderte es den Eversor mit einem gellenden Schrei von Deck, eine Aschenfontäne rieselte in das Rot der Blutpfütze auf dem Quai.

Niko und Pat standen einen Moment wie versteinert da, als sie von Franks Ruf aus ihrer Lethargie gerissen wurden:

“Alle vom Schiff!” rief er und versuchte hektisch, WWW aus dem Leichensack zu entwirren. Der war inzwischen Aufgewacht und trug mit seinen desorienterten Bewegungen nicht gerade zu seiner Befreiung bei. Als Frank endlich den leeren Sack in Händen hielt, stiess er WWW in Richtung der Reling:

“Schnell, springen sie!” Rief Frank. Doch Wilson hörte nicht.

“Los!”, “Ins Wasser!” ermutigten ihn Pat und Niko.

“Ich werde Euch vernichten! Damit alle sehen dass ich der Mächtigste bin!” schrie Wilson. Da packten Niko und Pat ihn bei den Armen und versuchten, ihn gewaltsam über die Reling zu hieven. Die Zeit war zu knapp für Höflichkeiten.

“Was?!” fauchte Wilson und mit einer unglaublichen Kraft stiess er seine Arme nach vorne und katapultierte die beiden Auxiliatores von Bord. Platschend landeten sie einige Meter tiefer im Wasser.

“Wilson! Springen sie!” schrie Frank. Die Uhr war bei fünf Sekunden angelangt. Plötzlich ging eine Veränderung durch WWW. Überraschung und Desorientierung kämpften erneut um sein Gesicht. Frank lief die Zeit davon. Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, stiess er den abgelenkten Wilson über das Geländer. Dann blickte er zurück auf das Display:

00:00:02

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Patricia konnte es nicht mit ansehen. Sie wandte ihr tränenüberströmtes Gesicht ab. Als die erste Explosion Frank erwischt hatte, war sie verzweifelt gewesen. Doch als sie ihn dann vor sich liegen gesehen hatte, kaum einen Kratzer von aussen, da hatte sie schnell neuen Mut gefasst. Doch nun? Frank hatte direkt vor einer Bombe gestanden, die ein Schiff voll mit Munition, Raketen und Torpedos, zerschmettert hatte. Es war wie ein Feuerwerk.

WWW schien dies alles nicht zu berühren. Er schwamm auf die Quaimauer zu, kletterte flink an ihr hoch und verschwand in den wirren Gassen des Hafenviertels, sein wahnsinniges Gelächter schallte bis zu den Docks.

Niko hatte bereits aufgegeben, die Tränen aus seinen Augen zu wischen. Er konnte sie nicht aufhalten. Wie durch den Tränenschleier die wiederholten Explosionen das Schiff zerrissen, ihre blendende Helligkeit seine Augen schmerzte, konnte er nicht fassen, dass dies wirklich geschah.


Es war ein regnerischer Novembertag. Sechs Wochen waren vergangen, und der Park um den Chrysosthomusturm war beinahe wie ausgestorben. Wer ging schon gerne in einem matschigen Park spazieren, besonders wenn dort gerade eine Beerdigung stattfand. Patricia Wagner fühlte sich seltsam, als sie aus ihrem Auto stieg. Sie und Frank waren oft hierher gekommen, zum Park, in den Turm. Dies war Franks zu Hause gewesen. Jahrhunderte war der Turm alt. Mit Sicherheit älter als Heidelberg selbst, sogar älter als das Schloss. Und schon seit die Geschichtsschreibung sich daran erinnert, gehörte er der Familie Weber. Dieser Turm hatte seinen Teil an Geburten, Beerdigungen, Hochzeiten und Kriegen miterlebt. Die weitreichenden Tunnelsysteme darunter hatten als Zufluchtsort für Verfolgte genauso gedient wie als Passage für Schmuggler. Aber jedes mal wenn ein Weber gestorben war hatte es einen weiteren gegeben, der hier seinen Platz eingenommen hatte, in diesem gotischen Turm, der sich himmelwärts erstreckte als wolle er den Turm von Babel eifersüchtig machen.

Doch diesmal fand sich niemand, der die Familientradition fortführen würde. Der letzte der Webers war gestorben, ein Schweizer, in den USA geboren und nach Deutschland gekommen als sein Onkel gestorben war. Oder doch nicht?

Als Patricia auf das grosse Holzportal des Turmes zutrat, stand einige Meter weiter hinter einem Baum verborgen ein Mann mit langen, blonden Haaren. Seine Ähnlichkeit mit Frank, wenn auch nicht übermässig, war nicht zu leugnen. Sein linkes Auge leuchtete in der Dämmerung. Die Stimme, die zu diesem etwas schmaleren Gesicht gehörte, klang beinahe wie Frank:

“Das war es also. Bruder.”